Die genomische Zuchtwertschätzung – ein neues Zuchtverfahren

Die genomische Zuchtwertschätzung – Gegenwart oder Blick in die Zukunft? 

Die Gentechnik hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Das betrifft auch die Hundezucht. Schon länger wurde ein Gentest für HD angekündigt. Er kam nicht, dafür kam ein Verfahren, die genomische Zuchtwertschätzung, die es erlaubt, HD auf Vereinsebene mittels moderner Genetik zu bekämpfen.

Die genomische Selektion ist ein vollkommen neu entwickeltes Verfahren. Sie kombiniert Methoden der Molekular- und Populationsgenetik und kann auch in der Hundezucht bei der Zuchtselektion bei HD eingesetzt werden.

Dem Züchter wird mit der genomischen Selektion erstmals eine Methode an die Hand gegeben, mit der er die Merkmale der Nachkommen aufgrund der genetischen Zuchtwerte der Eltern präzise vorhersagen kann. Somit kann der Züchter unerwünschte Merkmale wie HD oder OCD oder Krebstumore bei den Nachkommen durch eine effiziente Anpaarungs- und Zuchtplanung vermeiden.

Bevor wir in die Details gehen ein kurzer Faktencheck: Prof. Ottmar Distl beziffert die Heritabilität von HD beim Deutschen Schäferhund auf 25%. Das heißt, nur 25% der HD-Ausprägung ist genetisch bedingt, 75% sind Aufzucht bzw. umweltbedingte Faktoren. [1]

Die Voraussetzungen für genetische Selektion sind beim Deutschen Schäferhund geradezu ideal erfüllt durch eine Forschungsstudie von Dr. Ottmar Distl der TIHO Hannover mit deutschen Schäferhunden. Das Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat 2014 eine wegweisende große Forschungsstudie publiziert, im Rahmen derer die HD-Gene und  Loci identifiziert wurden.[2]

Für die genetische Aufklärung der HD beim Deutschen Schäferhund wurden in dem erwähnten Forschungsprojekt 11 väterliche Halbgeschwisterfamilien verwendet. Bei allen Hunden standen HD-Befunde sowie EDTA-Blutproben zur Verfügung. Das Familienmaterial umfasste insgesamt 459 Hunde aus den Geburtsjahrgängen von 1985 bis 2003. Es wurde aus dem HD-Datenbestand des Vereins für Deutsche Schäferhunde (SV) zusammengestellt.

Das neue Verfahren, die genomische Zuchtwertschätzung beruht auf den Forschungsergebnissen dieser HD-Studie am Deutschen Schäferhund.

Die genomische Aufklärung der HD im Rahmen dieses Verfahrens beim Deutschen Schäferhund wird von Prof. Distl als ein wesentlicher Schritt zur Vereinfachung der Bekämpfung der HD gesehen. Das neue Verfahren eröffnet die Perspektive, die Häufigkeit dieser Gelenkerkrankung in kürzerer Zeit deutlich zu vermindern. Es wäre also eine Art Schnellverfahren, das die mühsamen und kaum vorankommenden traditionellen Selektionsverfahren bei HD ersetzt. Das Verfahren ist genetisch fundiert und deshalb in seiner Zuverlässigkeit weit überlegen, vor allem durch die Tatsache, dass die Zuverlässigkeit der Ergebnisse nicht abhängig ist von der Anzahl der geröntgten Nachkommen bzw. Familienmitglieder aus der Abstammungslinie.

Leider hat Ottmar Distl keinen Nachfolger gefunden, der in Hannover am Institut seine Forschungen fortsetzt. Deshalb soll Labogen, eines der führenden Labore für Gentests  die praktische Umsetzung zukünftig interessierten Zuchtvereinen anbieten und die Forschung übernehmen.

Trotz der Vorteile der genomischen Zuchtwertschätzung kam der SV damals im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Abschätzung zum Schluss, das mitentwickelte Verfahren nicht einzusetzen.
Über die genauen Gründe ist mir keine offizielle Stellungnahme bekannt. Man kann darüber nur rätseln. In einem Schäferhundforum habe ich interessante Antworten gefunden. Man kam offenbar zum Ergebnis, das Verfahren, das in der Tierzucht schon länger mit Erfolg eingesetzt wird, sei zu teuer für den angebotenen Nutzen. Man könne HD mit den bereits bestehenden Verfahren Röntgen und HD-Zuchtwert erfolgreich bekämpfen.[3]

Nun ist das aber nicht wirklich der Fall, dass die bestehenden Verfahren in der letzten Zeit so erfolgreich gewesen wären. Trotz vieler Bemühungen stagniert man seit vielen Jahren. Diese Tatsache hat der finnische Schäferhundverband in einer Studie festgestellt.
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die offiziellen SV-Statistiken und damit auch die Berechnung des HD-Zuchtwertes nicht stimmen, dadurch dass negative Ergebnisse, also positive HD-Befunde sehr oft nicht eingeschickt werden. Es sind also geschönte Zahlen! Weiters röntgen viele der Privatbesitzer ihre Hunde gar nicht oder nicht professionell genug, sodass aus den Würfen ein viel zu geringer Teil der Nachkommen geröntgt ist, was die Ergebnisse ebenfalls sehr stark verfälscht. Wenn nur 20-30% der Wurfgeschwister geröntgt sind, funktioniert das zugrundeliegende Modell nicht, das aus der Nutztierzucht stammt, dort aber einen 100%igen Rücklauf vorsieht, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen.

Zusammengefasst: Die bisherigen Mittel zur HD-Vermeidung funktionieren nicht, weil nicht alle Hunde einem Röntgen mit Auswertung zugeführt werden, so wie dies in der DDR unter dem Kommunismus möglich war.

Kommen wir wieder zur genomischen Zuchtwertschätzung, die darauf basiert, dass Vater und Mutter, also beide Tiere diesem Verfahren unterzogen werden und weiterhin müssen Pedigree und Gesundheitsdaten der Zuchtfamilien elektronisch erfasst sein, was Aufgabe des Verbandes wäre. Der Vorzug dieses Verfahrens ist, dass es unabhängig mit einer Sicherheit von 85% funktioniert, egal, wie viele Tiere im Familienverband ausgewertet werden.

Momentan setzen nur einige wenige Zuchtverbände wie der Schweizer Berner Sennenhund-Verband oder der Deutsche Deutsch-Drahthaar-Zuchtverband die genomische Zuchtwertschätzung in der Zucht ein.

Für den Züchter wurden im SV-Kontext offenbar Kosten in Höhe von 230 Euro pro Hund für die Erstellung des genomischen Zuchtwertes und des vorangehenden Bluttests überschlagen.  [3] Mich schreckt dieser Betrag nicht! Allerdings könnten die Kosten für einen viel kleineren Zuchtverband eventuell höher sein. Wie die Bedingungen sind, wird pro Zuchtverband einzeln festgelegt. Labogen bietet eine genomische Zuchtwertschätzung in Kooperation mit Ottmar Distl für Zuchtverbände an. Dies wurde am letzten Züchtertag am 26. Oktober 2024 bekannt gegeben im Rahmen eines Onlineseminars.

Was sind die Nachteile des neuen Zuchtverfahrens?

Es geht hauptsächlich um die Kosten und um wirtschaftliche Folgewirkungen. Neben den deutlich höheren Kosten, welche die Welpenbesitzer bereit sein müssten zu tragen, verursacht die genomische Zuchtwertschätzung durch die statistische Fundierung und die Pflege des Datenbestandes, der „a jour“ gehalten werden muss, einen Verwaltungsaufwand für den jeweiligen Zuchtverband. Man muss das Personal im Zuchtamt auch bezahlen. Sollten sich letztlich bei Premium Mehrkosten von 300 bis 400 Euro pro Hund ergeben, also mehr als die veranschlagten 230 Euro pro Hund, so finde ich das immer noch vertretbar.
Der Vorzug wird auch zum Nachteil: Man kann nichts mehr vertuschen! Als Nachteil ergibt sich, dass bestehende Züchter ihren Bestand neu betrachten müssten. Ich habe errechnet, dass etwa 17% der HD-freien Hunde de facto HD-Trägertiere sind. Es geht also um einen wirtschaftlichen Verlust, wenn Zuchthunde, die nach gängiger Praxis HD-frei sind, nun plötzlich zu HD-Trägern werden und hinsichtlich Genetik keine Zuchtempfehlung mehr erhalten. Viele Züchter wollen keine Zuchttiere aus dem Bestand nehmen. Es könnte gerade bei Beständen, die klein und gefährdet sind (wie die DDR-Linie) nicht die richtige Maßnahme sein. Man kann andererseits wiederum sehr sanft selektieren, indem man belastete Hunde mit unbelasteten verpaart und somit HD vermeidet. Es wird die Praxis zeigen, wie streng die Verpaarungspolitik bei diesem Verfahren sein muss.

Weiters: Die Röntgendiagnostik könnte mit der Zeit durch die genomische Zuchtwertschätzung  ersetzt werden, was wirtschaftlich für viele Tierärzte und Gutachter Folgen hätte. Schließlich wird mit den Zuchtröntgen zur Zeit sehr viel Geld verdient. Dr. Tellheim finanziert ein ganzes Forschungsinstitut in Gießen mit den Röntgenauswertungen des Deutschen Schäferhundes. Umso bedenklicher ist, dass der wissenschaftliche Beirat des VDH, der in die Entscheidungen, ob die genomische Zuchtwertschätzung im SV kommt oder nicht, u.a. auch mit Dr. Bernd Tellhelm besetzt war…

Ein weiterer Nachteil: Nichts ist hundertprozentig: Die Zuverlässigkeit für den genomischen HD-Zuchtwert beziffert Prof. Distl auf 85%. Selbst wenn von allen Zuchtpartnern der genomische HD-Zuchtwert bekannt wäre und bei den Verpaarungen berücksichtigt werden würde, könnte bei ca. 15% der Würfe trotzdem etwas schief gehen in Bezug auf die HD-Vererbung. Nichtsdestotrotz gehen Prof. Distls Berechnungen davon aus, dass sich der Status Quo in der Zucht bei einem Einsatz der genomischen Zuchtwertschätzung wesentlich verbessern würde.  Prof. Distl spricht in einer Vergleichsrechnung davon, dass sein Verfahren um den Faktor 3 überlegen ist. Letztlich kann dies nur die Praxis zeigen.

Hundertprozentig wird man weder HD noch andere Krankheiten ausschließen können, aber man kann sie stark zurückdrängen und darauf die neue Zucht aufsetzen – damit wäre schon viel gewonnen.  Imagemäßig leidet der Deutsche Schäferhund sehr unter seiner Disposition für HD und steht damit im Tierschutz unter Qualzuchtverdacht. Es müssen in jungem Alter immer wieder Schäferhunde eingeschläfert werden.

Premium-Zucht als Mittelweg?

Mein Vorschlag wäre, in Zukunft eine Art Mittelweg zu gehen ausgehend von dem Fakt, dass die DSH-Züchter derzeit generell wenig Bereitschaft zeigen, mehr Kosten in der Zucht auf sich zu nehmen, sei es durch zusätzliche Gentests oder neue Zuchtverfahren. Begründet wird das immer mit dem Argument, dass der normale Welpenkunde einen Preisanstieg nicht tolerieren würde, vor allem  aber keine Untersuchungskosten durch die genomische Zuchtwertschätzung übernehmen werde.  Zweiteres sehe ich auch so.  Röntgen- und Gen-Diagnostik parallel wird der Familienhundbesitzer nicht mitmachen. Das ist ein Zucht- oder Leistungshundeansatz.  Es wäre jedoch die falsche Herangehensweise und ginge auch an den Vorteilen des neuen Verfahrens vorbei, das funktioniert, selbst wenn nur einzelne Tiere aus dem Bestand untersucht werden.  Es wäre in meinen Augen daher denkbar und auch sinnvoll,  in diesem Kontext eine Art Premium-Zucht mit Gütesiegel unter Einbezug dieser genomischen Zuchtwertschätzung zu etablieren, welche der Zucht dient und jenen ausgewählten Kunden zur Verfügung steht, die genug Geld haben oder die Hunde im Sport oder als Gebrauchshund einsetzen wollen und mehr Sicherheit wünschen.

Ich persönlich wäre bereit, diesen Weg zu gehen und die genomische Zuchtwertschätzung zu übernehmen. Es interessiert mich, in meinem kleinen Rahmen, züchterisch das Optimum umzusetzen, um zu sehen, wie groß die Erfolge sein werden. Es ist einfach spannend, neue Wege zu gehen, und ich glaube, dass genug Welpenkäufer in meinem Umfeld bereit wären, diesen neuen Weg in der Zucht zu unterstützen, um damit auch eine gesunde Zucht des Deutschen Schäferhundes mit zu befördern. Nicht zuletzt kostet ein Welpe nicht mehr als viele für einen Sommerurlaub ausgeben.

Natürlich dreht sich die Zucht nicht nur um die Genetik. Die Arbeit bzw. Verbesserung der Anatomie hin zu geradem Rücken, hoher Hüfte und deutlich weniger Winkelung in der Hinterhand ist ebenfalls wichtig und wird von mir nicht vernachlässigt.

Nicht zu vergessen das Wesen: Am Ende entscheidet meist das Wesen des Hundes und seine Alltagstauglichkeit, ob die Hundebesitzer zufrieden und glücklich mit ihrem neuen Familienmitglied werden, nicht der perfekte genetische Code oder die perfekte Hüfte. Dennoch ist es unsere Aufgabe als Züchter, Erbkrankheiten so gut wie möglich zurückzudrängen  und Zuchtfehler aus der Vergangenheit so gut wie möglich rückgängig zu machen.

Diesen tollen Tieren sind wir es schuldig!

 


[1] Prof. Dr. Ottmar Distl: Genomische Selektion in der Hundezucht am Beispiel der Hüftgelenkdysplasie. https://www.pointer-und-setter.de/images/stories/GenomSelektion.pdf

[2]Lena Fels, Ottmar Distl: Identification and Validation of Quantitative Trait Loci (QTL) for Canine Hip Dysplasia (CHD) in German Shepherd Dogs.
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0096618
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0096618

[3]Gen-Test auf HD beim Deutschen Schäferhund. Das Schäferhund Forum. Die Community um Schäferhunde & Co. https://www.das-schaeferhund-forum.de/thread/5020-gen-test-auf-hd-beim-deutschen-schaeferhund/?postID=122600#post122600

[4] Züchtertag Labogen, Aufzeichnungen vom 26.10.2024  https://zuechtertag.laboklin.com/aufzeichnungen-hauptprogramm-und-seminare/